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Dieses Thema hat 1 Antworten
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 ALGERISCHE KULTUR
Bavarois Offline




Beiträge: 804

21.12.2012 18:40
Theater in der Black-Box Antworten

Algerien In der Stadt Sidi Bel Abbes spielen Blinde ein Stück über den Arabischen Frühling. Sie bitten damit um mehr Respekt in einer sie oft ausgrenzenden Gesellschaft

Bevor die Vorstellung im Theater der westalgerischen Stadt Sidi Bel Abbes beginnt, geschieht etwas Außergewöhnliches. Die blinden Akteure nehmen jeden Besucher an der Hand und führen ihn zu seinem Platz. Alles findet in einem totalen Dunkel statt. Die Blinden müssen sich um die Sehenden kümmern, die ihre Umgebung plötzlich anders als gewohnt erleben und sich in die Lage eines Blinden hineinversetzen müssen, um deren Leistung würdigen zu können.

Für die Saison 2012/13 hat der Regisseur Saddek El Kebir in Sidi Bel Abbes ein ganzes Stück nach dem Black-Box-Prinzip mit Blinden inszeniert. Das heißt, Bühne und Zuschauerraum werden völlig abgedunkelt. Der Titel der Inszenierung Salon der Freunde reflektiert die Nähe, die es zwischen Blinden und Sehenden in diesem Fall geben soll.

Das Projekt ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie tief der Aufbruchsgedanke auch die algerische Gesellschaft seit Beginn des arabischen Frühlings erfasst hat. Der Kampf um Toleranz und Anerkennung ist zu einem Grundbemühen vieler geworden, auch von Blinden, die bisher in Algerien kaum Respekt erfahren haben.

Gespielt wird das vom Regisseur modernisierte afrikanische Märchen Der kluge Reisende lässt sein Herz zu Hause. Es handelt vom alten Affenkönig Hillal, der sich weigert, sein diktatorisches Regime aufzugeben, aber schließlich von einem jungen Herausforderer im Kampf besiegt wird. Danach lebt Hillal im Exil am Ufer eines Flusses, wo er sich mit der Schildkröte Daya befreundet. Nach einiger Zeit hat Daya Sehnsucht nach Mann und Kindern und kehrt auf ihre Heimatinsel Masuna zurück, auf der das Matriarchat herrscht. Dort erregen die Erzählungen über ihren Affenfreund Ablehnung und Hass. Bald wird bekannt, dass die Herrscherin der Schildkröten schwer erkrankt sei. Auf einer Volksversammlung erklärt ihre Heroldin – die Sturmschildkröte –, dass die Emira nur durch den Genuss eines Menschenherzens oder zumindest eines Herzens, das dem Menschenherz sehr ähnlich ist, geheilt werden könne. Also wird Daya gezwungen, Hillal zur Insel der Schildkröten zu locken.

Schweren Herzens macht sie sich auf die Reise. Als beide schon in Richtung Masuna unterwegs sind, gesteht Daya dem Affen, dass er geopfert werden soll. Hillal behauptet nun, sein Herz nicht bei sich zu haben, Affen nähmen ihre Herzen gewöhnlich nie mit auf Reisen. Er überzeugt die Schildkröte, ihn wieder ans Ufer zu bringen. Inzwischen jedoch hat Dayas nichtsahnende Tochter Selma Hillals Tochter Dunda überredet, nach Masuna zu kommen. Dort wird sie anstelle ihres Vaters eingesperrt. Ihren Tod aber können Selma und ihre Freunde noch verhindern. Sie gründen zu Ende des Stücks mit Dunda und anderen jungen Affen ein neues, bikulturelles Reich.
Noch nie so frei gefühlt

Bald stellt sich bei den Proben heraus, dass die ursprünglich teils als Lesung geplante Vorstellung vollkommen gespielt werden kann. Alle Laienakteure beherrschen nicht nur ihre Rolle, sondern auch den gesamten Text. Auch die zehnjährige Mbarka, die als Dunda auftritt. Ihre Lehrerin sagt, Mbarka sei es bisher schwer gefallen, lange Texte auswendig zu lernen, was an algerischen Schulen als absolut wichtige Grundfertigkeit gilt. Noch erstaunlicher ist der Entwicklungsschub der von Geburt an blinden Hakima, die sowohl Dundas Freundin Selma als auch die Sturmschildkröte spielt. Weil sich die schüchterne 19-Jährige zunächst im Theater überhaupt nicht zurechtfindet und den ganzen Probentag vor Aufregung weder essen noch trinken kann, legt ihr der Regisseur nahe, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. Von da an spielt und singt Hakima mit großer Verve und kann plötzlich wieder mit den anderen essen und trinken. Die Rolle der Sturmschildkröte mag sie lieber als die der Selma. Tatsächlich trifft ihr kräftiger Gesang den autoritär-kraftvollen Ton der ideologischen Einpeitscherin grandios. „Ich bin jetzt sicher, auch mein Abitur zu schaffen“, meint Hakima. Gegen Ende der Proben verkündet sie, nicht mehr mit ihrem Bruder ins Theater zu kommen, sondern allein anzureisen. Sie wohnt im hundert Kilometer entfernten Saida und muss den Weg Tag für Tag im Bus zurücklegen.

Da die in klassischem Arabisch dargebotene Geschichte vom Affen Hillal in metaphorischer Form Motive des Arabischen Frühlings und der autoritär-terroristischen Ideologie des Islamismus anspricht, unter denen das Land seit Jahrzehnten leidet, ist es kein Wunder, dass sich die Laienspieler so vom Stück angesprochen fühlen. Ihr Salon der Freunde richtet sich gegen Ausgrenzungen jeder Art, die sie selbst oft erleben müssen.

Obwohl die Blinden in Algerien ihre eigenen Organisationen haben und eine staatliche Grundversorgung erhalten, lassen öffentliche Wahrnehmung und Rücksicht zu wünschen übrig. Vom katastrophalen Zustand vieler Straßen, die überquert werden müssen oder der meisten Trottoirs ganz zu schweigen. So wird das Theater während der Proben für die Blinden zu einer Art Gelobtem Land. Abdelkader, ebenfalls ein Oberschüler, leidet an fortschreitender Erblindung und einer schweren Hautkrankheit, die ihn zwingt, eine schützende Maske zu tragen. Noch nie, so erzählt er, habe er sich so frei wie an diesem Ort gefühlt. Obwohl er sehr klein ist und einen schwächlichen Eindruck macht, lässt die Regie Abdelkader den jungen und siegreichen Herausforderer Hillals spielen. Der Darsteller beginnt seinen Auftritt mit einer Kampfesrede unten im Zuschauerraum, schwingt sich auf die Bühne und markiert die Auseinandersetzung mit Gesten, die an asiatischen Kampfsport erinnern. Obwohl die Proben erst um neun beginnen, steht er bereits um sieben vor dem Theater, um so früh wie möglich eingelassen zu werden.

Als Ersatz für einen anderen Akteur kam Amin als Darsteller des Hillal ins Ensemble. Der Lehrer schien zunächst keine besondere Begabung außer einer schönen Stimme mitzubringen. Aber innerhalb weniger Tage entfaltete auch er Fähigkeiten, die ihn bald wie einen routinierten, ja charismatischen Schauspieler wirken ließen.

Und schließlich Mohamed, ebenfalls ein Lehrer, der als ältester Darsteller den Raoui und damit den Erzähler gibt, der die epischen Partien des Stückes rezitiert. Als Vorsitzender des Blindenvereins von Oran, der großen Nachbarstadt von Sidi Bel Abbes, erhält er viel Post von europäischen Blindenvereinen, die Kontakte und Hilfen anbieten. „Ich antworte nie“, sagt Mohamed, „weil ich Angst habe, dass sie nichts Gutes im Schilde führen. Schließlich möchte ich nicht, dass sich die westlichen Länder bei uns einmischen. Und am Ende machen sie auch mit unserem Land, was sie mit Libyen gemacht haben und mit Syrien gerade machen.“
Ohne große Mühe

Der blind geborene Samir arbeitet als Komponist am Konservatorium von Sidi Bel Abbes. Zum Salon der Freunde hat er nun eine kongeniale Musik geschrieben und spielt sie mit großem Einfühlungsvermögen. Zur Freude der Truppe, aber auch des übrigen Theaterpersonals füllt er auch Probenpausen mit seiner Musik. Da wird gesungen, geklatscht, sogar getanzt.

Bei den Proben stellt sich etwas heraus, was sogar den Regisseur überrascht. Die blinden Schauspieler, die aus Sicherheitsgründen in einem durch eine Kordel begrenzten Spielfeld agieren, bewegen sich nach kurzer Zeit mit der natürlichen Anmut professioneller Akteure auf der Bühne. Diese müssen einen kunstvollen Bühnengang oft erst mühsam erlernen, die Blinden aber sind es gewohnt, jeden ihrer Schritte zu kalkulieren, bewusst zu setzen und sich dabei Zeit zu lassen. Dadurch entsteht ohne große Mühe ein anmutiges Bild. Wirklich schade, hört man schon von Seiten der Theaterleitung, dass die Vorstellung im Dunkeln stattfindet. Von dieser Idee lassen sich aber die Blinden nicht abbringen. Sie halten daran fest, dass die Sehenden ihre Lebenswelt einmal wie sie wahrnehmen sollten. Auch der Regisseur will zunächst von diesem Prinzip nicht abweichen. Da er seine Schauspieler aber auch nicht verstecken will, wird man sich letzten Endes einig, dass sie beim Schlussapplaus zu sehen sein werden.

Allein Allah durchkreuzt diesen Kompromiss. Kurz vor der Premiere wird Sidi Bel Abbes vom ersten heftigen Herbststurm heimgesucht, der dem Theater die Stromzufuhr kappt. Jede andere Vorstellung hätte ausfallen müssen – der Salon der Freunde nicht. Der Zuschauerraum ist am Premierenabend bis auf den letzten Platz gefüllt. Der einzig wirkliche Verlust besteht darin, dass es im Casino des Theaters keine Getränke und keinen Kuchen geben kann.

Sehen wird man die blinden Schauspieler mit dem Stück Der kluge Reisende lässt sein Herz zu Hause auch in einem Dokumentarfilm, der während der Proben unter blauen Scheinwerfern gedreht wird. Er soll die Lern- und Arbeitsorte sowie häuslichen Umstände der Darsteller zeigen und über Schwierigkeiten erzählen, denen Sehbehinderte im öffentlichen Leben Algeriens ausgesetzt sind. Ouarda etwa – im Stück verkörpert sie die Schildkröte Daya – schildert, dass sie beim Verlassen eines Busses gestürzt sei, weil ihr der Fahrer nicht die Zeit gönnte, die sie nun einmal braucht. „Soll man das in einem solchen Film erwähnen?“ fragt Mohamed. „Machen wir uns dadurch nicht lächerlich?“ Ouarda jedoch meint, dass nicht sie, sondern der rücksichtslose Busfahrer bloßgestellt werde. In den Streifen einfließen soll auch, dass die Gruppe, als sie zum ersten Mal zur Bank ging, um die Schecks einzulösen, mit denen sie das Theater für Proben und Aufführungen entlohnt, auf einen Kassierer traf, der Schecks von Blinden nicht annehmen wollte. Und so hoch dotierte schon gar nicht! Obwohl sie ihre Ausweise vorzeigten, reichten die nicht aus, um sie als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen.

Der Film wird aussagen, dass Blinde viele Seiten ihres Lebens gut meistern. Mohamed wird demonstrieren, wie er sich ein Omelett zubereiten kann. Mbarka will zeigen, mit welchem Geschick und welcher Geschwindigkeit sie abends ganz allein ihr Matratzenbett richtet und es morgens wieder wegräumt. Und Abdelkader wird im Lyzeum im Kreis seiner hilfsbereiten Mitschüler zu sehen sein, die ihn ganz als einen der ihren betrachten. Bisher wollte er Arzt werden, mittlerweile lieber Schauspieler.




Sabine Kebir

19.12.2012 | 13:30

http://www.freitag.de

sama sarka Offline



Beiträge: 3

14.02.2013 15:23
#2 RE: Theater in der Black-Box Antworten

Hallo,
spielt dieser Stück noch? wo kann man das progamm finden?
lG

«« Sansal
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