Das Weiler Erzählerfestival lässt die Faszination des Erzählens aufblitzen, aber das Konzept funktionierte auch nicht überall.
Von der Faszination des Erzählens spricht Tonio Paßlick, Veranstalter des Weiler Erzählerfestivals, wenn die Grenzen des Raumes sich auflösen, der Zuhörer dem Erzähler an den Lippen hängt und das Drumherum vergisst. Charles Aceval ist so einer. Der große grauhaarige Mann, der in Algerien geboren ist, erzählt Märchen seiner Kindheit, auch in der Sprache seiner Kindheit. Er beginnt in Arabisch, wechselt ins Französische, um schließlich Deutsch zu erzählen. Mittlerweile lebt der Märchenerzähler nämlich bei Böblingen. Er hängt sich einen weißen Umhang um, trägt den Turban der Wüstenbewohner auf dem Kopf und entführt die Zuhörer in die algerische Hochebene.
Tatsächlich ist Charles Aceval ein Magier, einer der den großen nahezu leeren Festsaal des Alten Rathauses in ein Nomadenzelt unter dem Sternenhimmel verwandeln kann. Er braucht dafür nicht viel, vor allem seine Stimme und natürlich die Exotik von Raum und Helden seiner Märchen. Märchen sind wahr, sagt Charles Aceval, doch da diese Veranstaltung im Rahmen des EU-Projekts "My story is your story" läuft, erzählt der Mann aus dem Maghreb auch Geschichten aus seinem Leben. Vom Hunger, den Geschichten für eine Nacht vergessen machen, erzählt er, vom großen Abenteuer des Jungen aus der Wüste in der großen Stadt Marseille, vom noch größeren Abenteuer des Mannes aus dem Maghreb in Reutlingen und Sindelfingen. Und da ist sie tatsächlich diese Faszination von der Tonio Paßlick sprach.
So sehr sich Hansjörg Ostermayer abmüht, und er müht sich sehr: Diese Bindung zwischen Zuhörer und Erzähler mag ihm nicht so recht gelingen. Dabei ist seine Geschichte um die erste Blockade der Kaserne in Großengstingen damals in den Zeiten der westdeutschen Friedensbewegung durchaus amüsant. Er kennt die Spielregeln einer erfolgreichen Geschichte. Doch es mangelt ihr an Unvergänglichem, sie ist richtig, aber nicht unbedingt wahr, wie zum Beispiel ein Märchen wahr ist oder die Lebensgeschichte eines Jungen aus Nordafrika, der nach Deutschland kommt authentisch ist, und zwar über die einzelnen Stationen hinaus.
Den ganzen Samstag erzählten auch Brigitte Wittkämper und Ute Delatorre aus der Gruppe der Weiler Erzähler an literaturfernen Orten Märchen – im Gartencenter, im Lebensmittelmarkt oder im Schuhgeschäft. Da weiß die Gärtnerin überhaupt nicht, um was es geht, die Verkäuferin im Lebensmittelmarkt auch nicht, sie erkundigt sich aber und weist den Weg in den Personalraum. Schon ungewöhnlich, Märchen zwischen Äpfeln, Kürbissen und Salat wären atmosphärisch wohl dichter gewesen. Die vier Zuhörer hätten auch dort Platz gefunden, selbst am Samstag, wo allen nach Einkauf und nicht nach Muse steht. In die letzten Gartenmöbel hat sich übrigens auch keiner gesetzt und zwischen Pumps und Winterstiefel wollte auch niemand Märchen hören. "Wo ist hier die Veranstaltung im Rahmen des Weiler Erzählfestivals?" Auch in der Buchhandlung Müller ist kein Schild zu sehen, doch die Damen an der Kasse weisen den Weg. Oben sitzt Ute Delatorre vor einem Ehepaar. Mehr werden sich auch hier nicht mehr einfinden, zu dieser zweiten Erzählrunde in der Buchhandlung. Auch in der ersten waren es so viel, in der Buchhandlung Lindow frühmorgens niemand, mittags einige Kinder.
In Algerien übrigens dürfen Märchen erst in den Abendstunden erzählt werden; sonst treffen die Erzähler Krankheit und Leid. Die Weiler Veranstaltungen am Donnerstag- und Freitagabend waren gut besucht, für ein Beduinenzelt hat es am Samstagabend auch gereicht. Nichtbeachtung durch das Publikum reicht auch schon, Krankheit und Leid braucht es da nicht. Das ist die ernüchternde Weiler Version der Lebensweisheit aus dem Maghreb.
Weil am Rhein
Mo, 07. Oktober 2013
Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der Badischen Zeitung.
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