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Dieses Thema hat 3 Antworten
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 ALGERISCHE KULTUR
Bavarois Offline




Beiträge: 804

09.07.2007 19:12
Zeitungsartikel über Camus Antworten

Süddeutsche Zeitung, 25.06.2007

Warum Algerien Albert Camus nicht verzeiht

Die Sonne, diese unbarmherzige algerische Sonne, die das Meer in einen glühenden Ozean verwandelt; die auf die Stirn donnert wie ein Presslufthammer und Menschen töten lässt; diese Sonne ist heute nicht in Form. Ein kühler Wind fegt über Algier, der Himmel ist bleigrau.




Hätte Albert Camus diese brutale Sonne in Kisten packen und nach Frankreich verschiffen können, er hätte einer Spedition jede Summe gezahlt. Stattdessen importierte er einen algerischen Esel, der vor seinem Haus in Lourmarin provenzalisches Gras fressen musste.

Hätte Algerien wiederum das Andenken an Camus in Kisten packen und loswerden können, das Land hätte es sich Einiges kosten lassen. Stattdessen ignoriert es den Schriftsteller nach Kräften. Es gibt eine Stele am Strand von Tipasa, westlich von Algier, wo Camus' Buch "Heimkehr nach Tipasa" spielt. Sonst gibt es nichts.

Der Literaturprofessor Mohamed Lakhdar Maougal hat ein Buch geschrieben: "Post-mortem ermordet". Er meinte Camus. Jetzt steht er auf den breiten Stufen des Gymnasiums Emir Abdel Kader, zwischen der Kasbah und den Wohnsilos von Bab El-Oud. Früher hieß es Lycée Bugeaud und war das einzige Gymnasium in Algier, Camus' Gymnasium. Maougal ist ein kahlköpfiger älterer Herr, der sich in den Strom der Feierabendpassanten stemmt, und einer der sehr, sehr wenigen Menschen in Algerien, die sich mit Camus beschäftigen. Während der Zeit des islamistischen Terrors in den Neunzigern flohen viele Intellektuelle, denen Camus am Herzen lag. Aber das ist nicht der einzige Grund: "Wir haben jahrelang nicht über Camus gesprochen. Noch 1987 nannte eine Forscherin Camus einen ,kolonialistischen Schriftsteller‘", sagt Maougal. Bis 1994 war einzig "Der Fremde" ins Arabische übersetzt, seitdem ist wenig hinzugekommen. Die Zeitung Le Soir schrieb jüngst: "Der Junge aus Mondovi (eigentlich Drean im Bezirk d'el Tarf), geboren in eine bescheidene Familie, war überzeugter Partisan eines französischen Algerien. Das steht fest".

Schmelztiegel Rue Bab-Azzoun

Dass Camus als Journalist Reportagen über den Hunger in der Kabylei geschrieben hatte - vergessen. Dass er den Unabhängigkeitskampf auch deshalb ablehnte, weil er generell nichts von Bomben hielt - vergessen. Geblieben ist ein einziger Satz: "Ich liebe die Gerechtigkeit, aber ich liebe auch meine Mutter." Gesagt hat Camus ihn im März 1954. Wenn ein Terrorist eine Bombe auf einen Markt wirft, auf dem seine Mutter einkauft, so Camus, sei er für ihren Tod verantwortlich, sobald er den Terroristen verteidige. So viel privates Sentiment war im Zeitalter der Utopien inopportun und in Algier unverzeihlich. Der Psychiater Frantz Fanon hatte Gewalt als eine Art didaktisches Instrument gesehen: Nur durch Gewalt, schrieb er in "Die Verdammten der Erde", "können die Massen die Wirklichkeit der eigenen gesellschaftlichen Lage erkennen." Camus rang um einen Ausgleich, aber die Unabhängigkeit lehnte er ab. Eine algerisch-französische Konföderation hielt er für denkbar, den Verlust seiner Heimat nicht.

Dass die Zeit abgelaufen war, dass er seine Heimat nicht würde behalten können, ohne eine noch schlimmere Unterdrückung der Araber in Kauf zu nehmen, begriff er nie. "Unsere schlimmsten Feinde sind nicht die kolonialistischen Franzosen. Es sind die Franzosen Ihrer Art", hatte ein algerischer Anführer gesagt: "Sie geben uns ein falsches, versöhnendes Bild von Frankreich. Sie schaden uns am meisten."

Camus hat den Beginn dieses Kampfes nicht mal geahnt, als er in den zwanziger Jahren die Stufen des Lycée hinauftobte. Jeden Morgen fuhr er mit der Straßenbahn hierher, immer am Meer entlang. Es war einer der schönsten Schulwege der Welt. Maougal ist ihn x-mal gegangen, vorbei an dem ausgebrannten Kino Alcazar, in dem Camus seiner Großmutter die Stummfilmtexte vorlesen musste und vor Peinlichkeit jedesmal einging, vorbei am riesigen gelben Hopital Mustapha, wo Camus mit Tuberkulose lag. Camus' Familie war arm, der Vater im Ersten Weltkrieg gestorben, die Mutter mit einer geheimnisvollen Sprachlosigkeit geschlagen, die sie für Camus fast zur Heiligen machte. Im Alltag regierten die Großmutter und ihr Ochsenziemer.

Nachzulesen ist das alles in "Der erste Mensch", der nostalgisch schimmernden Liebeserklärung an seine Kindheit in Algier. Maougal kann die Passagen fast auswendig über die Arkaden in der Rue Bab-Azzoun, über die Stoffhändler, die Boutiquen, die Touristenbasare, "wo scheußliche orientalische Glaswaren verkauft wurden." Die Rue Bab-Azzoun war ein Schmelztiegel: Araber, Franzosen, Juden, Spanier - Camus' Mutter war Spanierin - liefen hier ineinander. Heute wuselt es noch immer, Geschäfte verkaufen zeltgroße Büstenhalter, Gemüsekonserven, Holzstühle, aber es ist eine arabische Welt in französischer Kulisse. Maougal nennt es "Monokultur" und wird etwas traurig: Algier, sagt er, "war eine kosmopolitische Stadt, heute zählt nur arabischer Patriotismus. Die Algerier meiner Generation sind einsam, uns fehlt der Gedankenaustausch."

Maougal hat 20 Jahre an der Sorbonne studiert und gehört zu jener schrumpfenden frankophonen Elite, die Frankreich mit einer der perfidesten Kolonialisierungsstrategien der Geschichte geschaffen hat. Einen "Genozid an der algerischen Identität", nannte sie Algeriens Präsident Bouteflika vor einem Jahr. Bis zur Unabhängigkeit erfuhren die Algerier in der Schule, dass ihre Vorfahren Gallier waren und sich in der Mitte ihres Staatsgebietes ein Gebirge namens Massif Central erhebt, unterrichtet wurde nur auf Französisch. "Ich würde sehr gern auf Arabisch schreiben", hat ein älterer Schriftsteller geklagt, "aber ich kann nicht." Als die Franzosen nach acht Jahren Krieg und einer Million Toten abzogen, hinterließen sie eine Generation, die unter einem kulturellen Stockholm-Syndrom litt. Sogar die FLN, die Partei, die die Unabhängigkeit erkämpft hat und bis heute regiert, ist eine französische Abkürzung: "Front de Liberation National". Heute wird an der Schule auf Arabisch unterrichtet, aber an der Universität aus französischen Büchern gelehrt: Die Abstoßungsreaktionen münden manchmal nur in neue Sinnlosigkeit.

All dies hätte Camus nie gewollt, aber er wird es trotzdem nicht los. Algeriens Kulturministerin Khalida Toumi jedenfalls sieht keinen Grund, Camus-Bücher ins Arabische zu übersetzen, auch in diesem Jahr nicht, 50 Jahre nach der Verleihung des Nobelpreises: "Als die Franzosen abzogen, lag die Analphabetenrate bei fast 90 Prozent. Sie haben 130 Jahre lang Zeit gehabt, uns ihre Kultur nahezubringen. Sie haben es nicht getan."

Heute gibt es in Algier einen Frantz-Fanon-Boulevard, einen Märtyrer-Boulevard, sogar einen Kiosk "Der Märtyrer", aber keine Avenue Camus. Die Silhouette der Stadt beherrscht das gigantische Unabhängigkeitsdenkmal. Im Untergeschoss beherbergt es ein Museum, in dem Hunderte von Waffen und Bilder von grausam zerschundenen Freiheitskämpfern zu sehen sind, und noch tiefer liegt die Krypta mit Märtyrer-Porträts, einem Koran und religiösen Gesängen. In der Mitte ragt ein Steinbrocken empor wie im Felsendom in Jerusalem. Der Befreiungsmythos wird von Nationalisten wie von Islamisten genutzt, wer ihn in Frage stellt, versündigt sich an seinem Land und an seiner Religion zugleich.

Melone, der Mittelstürmer

Man muss schon Menschen wie Mohamed Lakhdar Maougal kennen, um den Weg in die Rue Mohamed Belouzad in Belcourt zu finden. Damals war Belcourt eine Industrie-Vorstadt mit "leprösen Fassaden", wie Emmanuel Roblès schrieb, heute sind die niedrigen Häuser eine Handbreit vom Slum entfernt. Aus der Dachrinne des Hauses Nr. 124 wächst ein Feigenbaum, vor dem Nachbarhaus verkauft ein buckliger Alter Schnupftabak. Zwei Männer lehnen an der Wand. Ja, in 124 habe ein berühmter Spanier gewohnt, sagt der eine. Der andere hat mal von Camus gehört. Aber der Besitzer der Wohnung im ersten Stock ist fort, wer weiß, wann er wiederkommt. Maougal drängt auf den Fußballplatz.

Camus und der Fußball, das war Hörigkeit. Am glücklichsten sei er auf der Bühne und auf dem Fußballplatz, hat er selbst mal gesagt. Es war der Sport der kleinen Leute, billig und prestigelos, aber ein wenig ebnete er doch die Klassenunterschiede ein und die Kluft zwischen den Völkern. Im Lycée zu spielen, hatte seine Großmutter verboten, weil sich die Schuhe abnutzten. Er spielte trotzdem. Zwischendurch war er Torwart bei der "Racing Universitaire Algerois", wo ihm regelmäßig ein dicker Mittelstürmer namens "Melone" ins Kreuz sprang. Das zubetonierte Viereck, wo Camus so glücklich war, liegt an der Straße. Auf der Tribüne verteilen sich ein paar Männer, der Torwart spielt barfuß. Die Jungs kicken wie die Teufel, Fußball ist ein Kleine-Leute-Sport geblieben, man weiß das seit Zidane. Maougal sieht zufrieden aus. Und endlich badet die algerische Sonne den staubigen Platz in Postkartenlicht. Er spiele aus Freude am Sieg nach der Anstrengung, hat Camus gesagt, und "wegen des absurden Drangs zum Weinen bei den Niederlagen".

In der Ferne ragt das Unabhängigkeitsdenkmal auf. Es muss Zufall sein: Von hier aus ähnelt sein Umriss dem Eiffelturm.

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waharania Offline




Beiträge: 672

11.07.2007 20:49
#2 RE: Zeitungsartikel über Camus Antworten

...wie unwissend man doch wäre, ohne das internet.
ich habe von camus bis jetzt nur "die pest" gelesen. fand ich sehr gut das buch.

lg

grit

amra Offline



Beiträge: 156

25.11.2009 13:43
#3 RE: Zeitungsartikel über Camus Antworten

Hallo,

hier ein lesenswerter Artikel über Sarkozy, der bekanntlich kein Literaturliebhaber ist, und Albert Camus:

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/A...art1117,2958837

Gruß und Salam
amra

amra Offline



Beiträge: 156

01.01.2010 15:32
#4 RE: Zeitungsartikel über Camus Antworten

Hallo,

hier ein etwas längerer, aber lesenswerter Beitrag zu Camus Tod vor 50 Jahren:

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/lit..._1.4404975.html

Gruß und Salam
amra

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