Französisch-algerische Altlasten
Benjamin Stora gilt als der bedeutendste Historiker der französisch-algerischen Beziehungen. Kersten Knipp hat mit ihm über das bis heute schwierige Verhältnis der beiden Länder gesprochen.
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Benjamin Stora, geboren 1950 im algerischen Constantine und seit vielen Jahren in Paris lebend, hat über die algerisch-französische Geschichte und deren Inszenierung zahlreiche Bücher geschrieben.
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Frankreich und Algerien haben an ihre gemeinsame Geschichte ganz unterschiedliche Erinnerungen. Wie lassen sich beide Traditionen charakterisieren?
Benjamin Stora: In Frankreich hat man sehr lange, fast 30, 40 Jahre, hauptsächlich das Vergessen gepflegt. Man sprach nicht von Algerien, man wollte diese Zeit hinter sich lassen – den Krieg und natürlich die Niederlage, den Schmach, dass man Algerien schließlich verlassen musste. Schließlich betrachteten die Franzosen das nordafrikanische Land als integralen Bestandteil des nationalen Territoriums.
Die Algerier hingegen hatten es mit einem 'Zu viel' an Geschichte zu tun. Für sie handelt es sich um eine Erinnerung, die sich auch dazu eignet, die Existenz der Nation zu legitimieren –und vor allem die politische Macht. Diese hat man durch heroische Erzählungen zu legitimieren versucht.
Warum ist die Vergangenheitsbewältigung für beide Seiten emotional so stark aufgeladen?
Stora: Die algerische Nation war im 19. Jahrhundert mitten im Entstehungsprozess, und zwar genau zu jener Zeit, in der die Franzosen das Land eroberten. Seitdem gibt es Unstimmigkeiten im Prozess der nationalen Identität. Der antifranzösische algerische Nationalismus war damals sehr stark. Schließlich hatte der Kolonialismus die Entstehung einer Nation im modernen Sinn verhindert, das schafft ein extrem starkes Gefühl der Feindseligkeit.
Als die Deutschen etwa Frankreich überfielen, griffen sie eine bereits sehr alte, historisch gewachsene Nation an. Die Franzosen konnten sich also auf Grundlage eines historisch gewachsenen Bewusstseins wehren. In Algerien war das anders. Das Land hatte keine nationale Tradition, auf deren Grundlage es sich hätte weiter entwickeln oder berufen können.
Dennoch könnte man vermuten, dass nun, beinahe ein halbes Jahrhundert nach der algerischen Unabhängigkeit, eine gemeinsame Erinnerung entstehen könnte.
Stora: Das ist nicht sehr wahrscheinlich, dazu sind die jeweiligen Erinnerungskulturen zu unterschiedlich. Und natürlich wird die Erinnerung auch von der Gegenwart beeinflusst. Denn die Algerier, die in Frankreich leben, sind zwar Franzosen geworden. Aber sie identifizieren sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern. Die Franzosen hingegen fragen sich, warum die Algerier, deren Vorfahren doch für die Unabhängigkeit gekämpft haben, nun hier in Frankreich sind. Es gibt also einen Graben, der auf beiden Seiten eine Menge Bitternis oder sogar Feindseligkeit hervorruft. Diese Gefühle nähren sich aus der Geschichte, dem Schulunterricht, der Überlieferung.
Aber die französisch-algerische Geschichte bietet doch ein Sinnpotential, auf das insbesondere die Algerier in Frankreich zurückgreifen.
Stora: Ja, denn diese Geschichte endete ja mit dem Triumph Algeriens. So sind die Kämpfe der Väter und Großväter während des Unabhängigkeitskrieges für viele Algerier bis heute positive Aspekte auch der individuellen Identität. Das gibt dem Leben der algerischen Migranten in Frankreich bis heute einen Sinn. Denn das Umfeld, in dem sie leben, ist schwierig. Arbeitslosigkeit, Rassismus, Stigmatisierung: Das alles fördert die Neigung, sich seine persönliche Identität auf Grundlage einer Geschichte zu konstruieren, die mit einem Sieg endet. Die Identifikation bedient also das Bedürfnis nach Stolz, und es legitimiert die eigene Person. Und das wird in der französischen Gesellschaft kaum verstanden.
Lassen sich der Kolonialzeit auch positive Aspekte abgewinnen? Gibt es etwas, auf das beide Länder stolz sein könnten?
Stora: Stolz sind vor allem die Algerier. Der Dekolonialismus ist eine Kriegsbeute, wie der algerische Schriftsteller Kateb Yacine es ausdrückte. Einerseits konstruiert er Identitäten. Auf der anderen Seite definiert man sich durch ihn aber auch negativ: durch den Kampf gegen etwas. Die Kolonisierung dauerte ja sehr lange, nicht nur in Algerien. Dadurch gibt es viele Länder, die bis heute frankophon sind. Und gerade die jungen Leute haben keine Lust, sich vom Französischen zu trennen.
Wohl aber suchen sie eine eigene und eigenständige Identität. Sie betrachten das Französische als zusätzliche Sprache – neben dem Arabischen und den Berbersprachen. Natürlich ist der Dekolonialismus längst nicht mehr so heftig wie in den 50er, 60er Jahren. Aber eine zentrale Frage aus dieser Zeit ist geblieben: Was soll man von dem Anderen, von Frankreich, halten, wie es wahrnehmen?
Eine gemeinsame Erinnerungskultur an den Kolonialismus halten Sie also für schwer vorstellbar.
Stora: In der Tat scheit mir diese zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig. Denn auf der einen Seite gibt es einen französischen Nationalismus, der den Rückzug aus Algerien bis heute nicht hinnehmen will. Der algerische Nationalismus legitimiert sich hingegen aus dem Sieg über den ehemaligen Kolonialherren. So gibt es zwei Versionen der Geschichte, die sich konträr gegenüberstehen.
So ist zumindest momentan, zu einem Zeitpunkt, zu dem die an den Kriegen Beteiligten noch leben, höchst unwahrscheinlich, dass es zu einer Einigung kommt. Beide Parteien fühlen sich im Recht. Man wird wohl noch einige Generationen abwarten müssen, bis es zu einer gemeinsamen Sichtweise kommt. All dem muss man natürlich aufklärerisch entgegentreten.
Interview: Kersten Knipp