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Dieses Thema hat 8 Antworten
und wurde 1.867 mal aufgerufen
 ALLGEMEIN
bavaroise Offline



Beiträge: 6

19.03.2012 18:15
Interview mit Boualem Sansal Antworten

Hallo und Salam,

ich habe vor kurzem im Fernsehen ein Interview mit dem algerischen Schriftsteller Boualem Sansal gesehen. Er ist ja einer der wenigen Intellektuellen, die noch in ihrem Heimatland ausharren, obwohl seine Bücher dort verboten sind. Er sprach über die aktuelle Situation in Algerien, und ich möchte hier eine kurze Zusammenfassung davon geben, es könnte vielleicht vor allem für uns "nicht eingeweihte" interessant sein.

Sansal sagte, die algerische Gesellschaft sei durch die herrschende Angst blockiert und dadurch unfähig etwas zu verändern. Viele derer, die etwas verändern könnten, seien ausgewandert, oft wegen der besseren Zukunftsaussichten für ihre Kinder. Es bestehe zwar Hass auf das System, aber kein persönlicher Hass auf Bouteflika, was auch bewirke, dass es ruhig bliebe. Das Leben sei, besonders für die Frauen, sehr unfrei und rückschrittlicher als in den 70-er und 80-er Jahren und stark islamistisch geprägt. Sansal meinte auch, der Zeitpunkt für eine Veränderung in Richtung Demokratie wäre jetzt, sonst würde Algerien aus der Geschichtsschreibung verschwinden und er hoffe, dass der "Funke des Arabischen Frühlings" doch noch auf Algerien übergreife.

LG, bavaroise

Kabyle Offline



Beiträge: 451

20.03.2012 17:22
#2 RE: Interview mit Boualem Sansal Antworten

Hallo Bavaroise,

zuerst willkommen in der verlassenen Oase, wo die Spuren der Vergangenheit (alte Beiträge) immer noch vorhanden sind. Sie stehen hier wie römische Ruinen für die „goldenen Zeiten“ vor der Auswanderungswelle.

Da es bald zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens kommen wird, möchte ich mich teilweise auch im Lichte der Aussagen von Boualem Sansal äußern. Es gibt zwar viele Beiträge in diesem Forum, die die Geschichte und Entwicklung in Algerien beschreiben und es kann deswegen zu Wiederholungen führen. Es ist jedoch wichtig im Moment, wo die französischen Medien so viele Berichte, wie nie zuvor, über den Befreiungskrieg 1954-1962 anbieten, Meinungen von algerischer Seite in einem eher neutralen deutschsprachigen Raum zu hören bzw. zu lesen.
Boualem Sansal konzentriert sich mit Recht vor allem auf die Nachkriegszeit und die Fehlentwicklungen in der algerischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit. Denn das Thema Befreiungskrieg wurde so sehr von der Führung in Algerien bei der Nachkriegsgeneration ausgenützt und instrumentalisiert, dass es sich zum Teil zu einem Bumerang entwickelt hat.
Die traurigen Ereignisse der 90. Jahren in Algerien sind auch teilweise der Ausdruck dieses Bumerangeffekts. Boualem Sansal schreibt Sachen, aus meiner Sicht, die der Wahrheit entsprechen. Es ist jedoch eine Nachkriegswahrheit. Es wäre vielleicht interessant an die Ausgangsposition und an einen sehr wichtigen Maßstab zu erinnern. Vor allem jetzt 50 Jahre nach der Unabhängigkeit.
Fakt ist, dass kurz, sehr kurz vor der Unabhängigkeit Algeriens 1962 (Algerienkrieg 1954-1962), 9 von 10 Algeriern analphabet waren, es heißt sie konnten weder schreiben noch lesen mit allen Folgen, die Unwissen mit sich bringt. Frankreich war in Algerien seit 1830, das Ziel hieß ursprünglich „mission civilisatrice“, das heißt, sie hatten eine zivilisatorische Zielsetzung im nordafrikanischen Raum. Jedem bleibt es durch diese offizielle Statistik überlassen zu urteilen, ob diese Zielsetzung innerhalb von 132 Jahre erreicht worden ist. Es bedeutet mit diesem Tempo, falls Algerien weiterhin ein französisches Departement geblieben wäre, dass im Jahre 2094 rein statistisch 10% der Algerier eine Bildung bekommen hätten. Es klingt zwar sehr unrealistisch und übertrieben aus heutiger Sicht, ich beziehe mich jedoch nur auf bisherigen Fakten. Nun bei aller Eitelkeit sehe ich mich nicht zu dem 1 % gebildeten Algeriern gehörend, wenn die Kolonialmacht weiter in Algerien geblieben wäre. Ich würde heute nicht hier sitzen und sogar auf Deutsch schreiben, wenn es zu dieser Unabhängigkeit nicht gekommen wäre. Dafür bin ich nun dankbar.
Nun zu Sansal und der Dankbarkeit. Sansal schreibt über die Fehlentwicklungen bzw. die verpassten Chancen das Land besser zu entwickeln, zumal die Mittel in den folgenden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit zum Teil intellektuell und vor allem materiell vorhanden waren. Die Kriegsgeneration sieht in der Regel das Glas halbvoll bis ¾ voll, die Nachkriegsgeneration sieht es zum großen Teil halbleer bis zum 3/4 leer. Die neue Generation konnte und wollte nicht ihre Zeit damit verbringen, sich bei der Kriegsgeneration zu bedanken. Die Kriegsgeneration, vor allem ihre Führung war erfüllt und verstand es nicht, dass die Nachkriegsgeneration ihre eigene Erfüllung braucht. Der Rausch des Sieges der Zielerreichung war leider nicht übertragbar, jeder braucht seinen eigenen Rausch und seine eigene Zielsetzung, die mit der eigenen Ausgangsposition zu tun hat. Wenn man bereits in Freiheit geboren ist, will man sich neue Freiheiten erkämpfen. Die Bremse, die dann entstanden ist, hat zum Teil mit dem Schatz zu tun, der in den 50. Jahren entdeckt wurde. Dies hat bereits den Befreiungskrieg härter gemacht, als das was er wahrscheinlich hätte sein können.
Es geht natürlich um die Erdöl- und Erdgasquellen in der Sahara. Die Kolonialmacht hatte bereits während des Befreiungskrieges versucht, eine Unabhängigkeit des Landes ohne Sahara für die algerische Seite anzubieten. Auch zwischen den Befreiungskriegern ging es zum Teil, auch nach der Unabhängigkeit, zur Sache. Für viele algerische Intellektuelle der Nachkriegszeit ist dieser Schatz ein Fluch und ein Hindernis für eine echte, dauerhafte und tragfähige Entwicklung. Wenn jemand einen Schatz besitzt, fühlt er sich reich und dauerhaft versorgt. Faulheit kann auch eine Folge sein. Er lebt aber dann mit einer Verfolgungsangst und zweifelt an den Absichten derjenigen, die ihm anbieten, diesen Schatz (mit)zu verwalten. Die alten Feinde unter anderem könnten ja auch im Hintergrund lauern. Nicht mal die eigenen Kinder wüssten, wie man damit umgehen sollte (mögen sie sich gesagt haben), denn sie haben dafür nicht gekämpft. Da kommt man zu der historischen Legitimation der Befreiungskrieger vor allem der Führenden unter denen. Führen und verwalten dürfen lange Zeit nur die, die an dem Befreiungskrieg beteiligt waren, oft abgesehen davon, ob sie für den Bereich, den sie führen, eine entsprechende Qualifikation und Fähigkeiten besitzen. Ist überhaupt eine Umschulung möglich? Wenn ein algerischer Schüler die Antwort auf eine Frage nicht weiß, dann schreibt er bei dem Nachbar bzw. Bekannten ab.
Die Antwort ist deswegen nicht richtig, weil man sie abgeschrieben hat. Bekanntlich sieht nicht nur Sansal, dass man in Algerien Vieles vom Falschen abgeschrieben hat. Der Verdienst ist nur, dass man kein leeres Blatt zurückgegeben hätte. Ein stolzer „Schüler“ kann kein leeres Blatt zurückgeben, er kann und wird niemals seine Unfähigkeit zu antworten zugeben. Schon gar nicht, wenn eine Belohnung aus dem Schatz bereits vor Leistungserbringung ihm gereicht wurde.

Der arabische Frühling ist dagegen ein „déjà vu“ in Algerien, als, vor allem, der algerische Schatz vorläufig Mitte der 80er Jahre wertlos auf dem Weltmarkt war. Wenn Algerien aus ihrer Vergangenheit lernen möchte, dann sollte es zuerst dringend seinen Schatz in kleinere andere Schätze umwandeln, um erstmals mehrere „Standbeine“ zu haben. So könnte das Land anfangen, zu „laufen“ aus der Sicht der Nachkriegsgeneration. Viele haben das schon verstanden, der Weg dazu scheint aber mühselig. Der beinhaltet strukturelle Veränderungen, deren Notwendigkeit von innen nicht sichtbar scheint. Dabei könnten eventuell die vertriebenen Intellektuellen, von denen Sansal spricht, eine wichtige Rolle spielen. Sie sollten inzwischen ein noch besseres Gesamtbild von Außen haben. Sie könnten ja zum Teil zurückkehren, falls die Schatzhüter unter anderem ihre willkürliche „Abschreibmethoden“ zugeben und sie auf gleicher Augenhöhe ansprechen.
Die Kunst des Loslassens ist nun gefragt.

Gruß und Salam

waharania Offline




Beiträge: 672

29.03.2012 09:30
#3 RE: Interview mit Boualem Sansal Antworten

danke kabyle, gute analyse.

jetzt meine frage: warum sollten die hüter des schatzes ebendas aufgeben? macht und profit abgeben? ich denke, das wird nicht passieren. und die nachfolger der hüter (wohl meist eine erbschaftsangelegenheit) werden den schatz noch grausamer hüten.

LG

waharania

Was immer passiert, tue immer so, als wäre es genau deine Absicht gewesen.
Paul Dickson

Kabyle Offline



Beiträge: 451

29.03.2012 14:14
#4 Schatz hüten! Antworten

Hallo Waharania,

Schön von Dir zu hören! hoffentlich geht es Dir und Deiner Familie gut.

Zu Deiner Frage, was die so genannten Schätzhüter anbelangt.
Die Ereignisse in der arabischen Welt haben zwar, aus meiner Sicht, keinen unmittelbaren kurzzeitigen Einfluss auf die Lage in Algerien. Es ist jedoch klar, dass die Führung sich darüber Gedanken macht, sie könne sich den sozialen Frieden nicht ewig kaufen. Der Marktwert des Schatzes liegt auch nicht in den Händen der Führenden (die Erfahrung haben sie ja schon mit allen Konsequenzen gemacht). Außerdem ist der Druck der westlichen Welt nicht zu unterschätzen. Denn der Westen ist jetzt mehr denn je an Stabilität interessiert, zum Beispiel wegen der Erdölpreise auf dem Weltmarkt, die jedes Mal explodieren können, wenn ein Konflikt, Unruhen oder nur schlechte Gerüchte in einem Land mit für die westliche Welt „relevanten Schätzen“ ausbricht. Man hat früher diktatorische Modelle vor allem unterstützt, weil sie für „Ruhe“, auch auf den Märkten, gesorgt haben. Vieles war dadurch leichter vorhersehbar und deswegen ist die Planung im Allgemeinen einfacher gewesen. Es war sozusagen leichter, in den meisten Fällen, mit einer Familie oder einer Sippe als mit einem gesamten Volk zu handeln. Diese Sichtweise scheint inzwischen kurzsichtig gewesen zu sein.
Die Führung in Algerien, wie auch in den meisten Ländern, handelt nicht so unabhängig, wie man sich dies vielleicht denken könnte. Heute nach der Finanzkrise ist der Druck deutlich größer. In den Kulissen wird anders diskutiert und gedroht, als das, was wir in den Medien mitkriegen. Wenn man, darüber hinaus, wirtschaftlich so abhängig von der Außenwelt da steht, wie das der Fall inzwischen in Algerien ist. Dann ist der Druck umso wirksamer.
Algerien unterscheidet sich von den meisten arabischen Ländern vor allem dadurch, dass es keine Familie an der Macht hat, die in einem mehr oder weniger erblichen System weiter besteht oder bestehen möchte. Die Führenden in Algerien sind teilweise „Gespenster“, von denen man kaum etwas weiß. Man spricht zwar von der Armee als Oberbegriff, aber auch da gibt es eine Rotation, die viele Bürger verwirrt. Sogar die Abstammung aus bestimmten Regionen im Land als Orientierung, scheint inzwischen aufgegeben zu sein. Die Politiker rotieren mit einigen wenigen Ausnahmen auch. Der Präsident scheint bei der Mehrheit beliebt zu sein. Deswegen kritisieren die Meisten nun (mit Recht) „das System“, denn sie können kaum die Schwierigkeiten und Fehlentwicklungen einer Familie, einer regionalen oder religiösen „Sippe“ (wie in den meisten arabischen Ländern) anlasten (festmachen). Ob das ein Vorteil im Vergleich zu erwähnten Ländern sein könnte? Ist sicherlich momentan noch nicht zu beantworten.
Es gibt Wahlen im Mai 2012 (kurz vor dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens im Juli). Bringt es, unter den aktuellen Umständen, eine „neue Generation“, eine klare Strategie und eine Wende zum Besseren hervor? Jedenfalls, hoffe ich es!

Gruß und Salam

waharania Offline




Beiträge: 672

21.05.2012 17:21
#5 RE: Schatz hüten! Antworten

hallo kabyle, danke der nachfrage, uns geht es allen gut. ich hoffe bei dir ist es ebenso.

nun waren ja wahlen und siehe .... oh wunder!!!! die fln hat gewonnen!!! ;-)
was nun? sprach das huhn.....

LG

waharania

Was immer passiert, tue immer so, als wäre es genau deine Absicht gewesen.
Paul Dickson

Kabyle Offline



Beiträge: 451

23.05.2012 13:36
#6 Wahlen in Algerien Antworten

Hallo Waharania,

bereits am 29.03.2012 schrieb ich „ Die Ereignisse in der arabischen Welt haben zwar, aus meiner Sicht, keinen unmittelbaren kurzzeitigen Einfluss auf die Lage in Algerien…“. Dies drückte sich unter anderem im Ergebnis der Wahlen in Algerien aus. Die „religiösen Parteien“, die überall in der arabischen Ländern haushoch gewonnen haben, haben längst vieles ihrer „Anziehungskraft“ in Algerien verloren. Sie haben in Algerien mitregiert und ihre Ergebnisse sind sehr bescheiden geblieben. Sie bleiben zwar relativ gut organisiert, sie ziehen jedoch die großen Massen nicht mehr an.
Nun das hohe Ergebnis der FLN bei diesen Wahlen hängt auch, nicht nur aus meiner Sicht, unmittelbar mit einer mediatisierten Rede des Staatspräsidenten zwei Tage vor der Wahl zusammen. In dieser Rede, die viele Algerier zu Tränen gerührt hat, drückte das Staatsoberhaupt den baldigen Abschied der Kriegsgeneration aus der Macht aus und ihre Unfähigkeit weiterzumachen. Es ist kein Geheimnis, dass Herr Bouteflika zum FLN gehört und im Land relativ beliebt ist. In diesem Sinne ist dieses Ergebnis von einem Teil der Bevölkerung auch als „Abschiedsgeschenk“ zu bewerten. Ob diese Rede sehr kurz vor den Wahlen fair war? vor allem gegenüber den neuen Parteien, ist eine andere Angelegenheit.
Nun, was die neuen Parteien betrifft, ist es sicherlich unmöglich innerhalb von einigen Monaten sich und ihre Vision bekannt zu machen. Ich gehe aber davon aus, dass sie im Parlament eine positive Rolle, trotz ihrer geringen Zahl, spielen werden. Denn niemandem ist es entgangen, dass die Mehrheit der Algerier nicht zu dieser Wahl gegangen ist.
Wichtiger ist zuerst, aus meiner Sicht, dass die neue Generation, übrigens auch bei der FLN, zu Wort kommt und auch die Frauen dieses Mal im Parlament stark vertreten sind. Sie könnten eine stabilisierende Rolle übernehmen, vor allem, weil sie oft besser als ihre männlichen Kollegen ausgebildet und weniger für Korruption anfällig, sind.
Die Herausforderung bleibt dennoch riesig, diese neue Generation muss spätestens bis zu den Präsidentenwahlen 2014, ihr Volk „kennen lernen“ und ein Vertrauensbasis zu ihm, vor allem der Jugend, schaffen. Ihre „Sprache“ könnte dabei entscheidend sein. Ein Paradigmenwechsel ist dazu notwendig. Das Gefühl für die junge Generation mitwirken zu können, ist dabei entscheidend. Auch die Notwendigkeit die Abhängigkeit von den Einnahmen der Bodenschätze bald zu reduzieren, um auf mehrere Standbeine stehen zu können ist eine der wichtigsten Herausforderungen der neuen Generation. Denn die bisher durch die Einnahmen von Erdöl und Erdgas „subventionierte Ruhe“ kann nicht ewig halten.
Ich bin nun gespannt auf die weitere Entwicklung, ich möchte jedoch optimistisch, im Gegensatz zu der Mehrheit meiner Landesleute, bleiben. Ich bin kein Anhänger radikaler Veränderungen, es gibt meistens dabei zu viele „Nebenwirkungen“. Geduld und Ausdauer waren bisher jedoch leider nie die besten Eigenschaften der Algerier.

Gruß und Salam

waharania Offline




Beiträge: 672

24.05.2012 09:27
#7 RE: Wahlen in Algerien Antworten

mh.... ich bin mir nicht sicher, ob der sieg etwas mit dieser rede zu tun hat. die fln hätte so oder so "gewonnen".
es wäre schon wünschenswert, dass sich im denken der machthaber etwas ändert, aber ich habe da ehrlich gesagt, nicht viel hoffnung.

wenn ich sowas lese, fehlt mir der glaube daran

http://www.taz.de/Der-Buergermeister-von-Zeralda/!93818/

LG

waharania

Was immer passiert, tue immer so, als wäre es genau deine Absicht gewesen.
Paul Dickson

Kabyle Offline



Beiträge: 451

26.05.2012 00:48
#8 RE: Wahlen in Algerien Antworten

Hallo Waharania,

Deine Skepsis kann ich gut verstehen. Von der traurigen Geschichte dieses Bürgermeisters hatte ich bereits über die unabhängigen algerischen Zeitungen vor einiger Zeit gehört. Niemand wird es bestreiten, dass die Korruption in vielen Bereichen der algerischen Gesellschaft vorzufinden ist und war. Es wäre jedoch unpassend bewusst oder unbewusst die Verhältnisse in Algerien mit den Verhältnissen in Nordeuropa zu vergleichen (mit Sudeuropa ist, unter Umständen, der Vergleich erlaubt).
Ich versuche jedoch andere Maßstäbe (auch wenn es schwer fällt) zu benutzen, um die Lage in Algerien zu beurteilen. Vor einigen Jahrzehnten beispielweise hätten wir von einem ähnlichen Bürgermeister (wie im Beitrag) in Algerien gar nicht gehört. Nicht mal eine Vermisstenanzeige wäre für seine Familie möglich. Die unabhängigen Zeitungen haben sich längst in Algerien als die richtige Opposition entwickelt. Sie sind sogar soweit in die Opposition gegangen, dass man bei ihnen kaum eine positive Nachricht lesen kann. Es ist teilweise anstrengend geworden, sie zu verfolgen. Dennoch spielen sie eine wichtige Rolle. Die Fehlentwicklungen seit der Unabhängigkeit haben wir in unserem Forum in der Vergangenheit öfter behandelt. Trotzdem frage ich mich immer wieder, ob man in 50 Jahren ein Land aufbauen kann, vor allem, wenn beim Start über 90% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann und von den übrigen 10% der Großteil maximal die Grundschule beendet hat. Die Nachkriegsgeneration sieht das Glas (mit Recht) im besten Falle halb leer, Die Kriegsgeneration dagegen versteht zum großen Teil ihre Jugend nicht (mehr).
Du hast sicher in Algerien festgestellt, wie die Dächer und die Balkons seit ca. zwei Jahrzehnten aussehen. Überall Sattelitenschüssel, soweit man sehen kann. Wenn man dabei bedenkt und weiß, wie viel Zeit die Algerier vor dem Fernseher verbringen, dann könnte man Einiges erklären. Die absolute Mehrheit der Algerier ist entweder auf/nach Europa oder Orient orientiert. Sobald ein Algerier oder Algerierin nach Hause kommt, ist er/sie sozusagen im Ausland. Die algerischen Fernsehsender interessieren bisher kaum jemanden (auch wenn die letzten Monate bescheidene Versuche unternommen wurden), es sei denn, es ist Ramadan, dann gibt algerische „Gerichte“. Sonst zeigen sie sowieso hauptsächlich fremde Sendungen, aus Europa oder dem Orient. Die Mehrheit entscheidet sich auch deswegen sozusagen für das Original und ignoriert die Kopie. Das Verhalten der einheimische Fernsehsender, die seit Jahrzehnten und die meiste Zeit beispielsweise, sich sogar die „algerische Sprache“ verbieten, die jeder und jede auf den Straßen Algeriens benutzt, grenzt an eine „Pathologie“.

Das Ergebnis ist unter anderem, dass die Algerier vor allem die Jugend ihre „Modelle“ fast immer im Ausland hat. Man könnte an ein dauerndes „Syndrom der Kolonisierten“ denken. Man glaubt nicht an sich, und man respektiert sich gegenseitig nicht. Dadurch dass die Orientierungsmaßstäbe (auch) „importiert“ wurden und die Latte immer frustrierend hoch ist, entsteht oft Hilfslosigkeit.
Nun kommt Internet dazu und die Interessantesten Sachen finden ausgerechnet (aus der Sicht der Benutzer) woanders statt. Man kann nun sogar mit der bisherigen „Fernsehwelt“ kommunizieren, man darf jedoch für die Meisten nicht hinreisen. Was für eine Frustration? Ich möchte heute nicht vorstellen, wenn ein junger Mann oder Frau in Deutschland nicht weiter als beispielsweise Österreich (=Tunesien) reisen darf, wie er reagieren würde, wenn er ständig mit Bildern aus der ganzen Welt konfrontiert ist.
Eine Globalisierung (auch mediale), wo nur Waren und Vögeln sich frei bewegen dürfen, hat viele negative Nebenwirkungen. Im schlimmsten Falle, könnte es sogar mitverantwortlich für Unruhe und Ausbrüche der Jugend (in den gesperrten Ländern) werden.
Auch wegen dieser hier beschriebenen „Rahmenbedingungen“, möchte ich über die jungen Menschen nicht zu schnell urteilen, die sich in Richtung ihrer „Träume und Modelle“ begeben wollen.
Trotzdem möchte ich nicht diesen Beitrag beenden, ohne festzustellen, es bewegt sich etwas in Algerien (langsam zwar) aber es tut sich was und das ist gut so!

Gruß und Salam

waharania Offline




Beiträge: 672

29.05.2012 09:24
#9 RE: Wahlen in Algerien Antworten

danke!

LG

waharania

Was immer passiert, tue immer so, als wäre es genau deine Absicht gewesen.
Paul Dickson

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