Wie kommt man ohne Papiere von Algerien nach Deutschland? Ein Flüchtling schildert seine Odyssee, die durch ganz Südosteuropa ging. Unzählige Male musste er immer wieder neuen Mut und neue Kraft schöpfen.
von Özlem Topçu und Mohamed Amjahid Quelle: Zeit Online
Wir trafen Fares, wie er genannt werden will, im vorigen Jahr in der griechischen Kleinstadt Nea Vyssa an der türkischen Grenze. Das ist die erste Stadt, durch die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa wandern, wenn sie aus der Türkei kommen. Fares, Mitte Zwanzig, schlief auf einer Holzbank am Bahnhof. Er hatte nur etwas Geld dabei, ein Handy und Zigaretten. Er erzählte, dass er gerade seine Heimat Algerien verlassen habe. Er war nach Istanbul geflogen und über die Grenze nach Griechenland gelaufen. Er wollte weiter nach Deutschland. Jedenfalls in den Norden Europas. Etwa ein Jahr später hat er Hamburg erreicht. Wir treffen ihn in einem türkischen Imbiss. Fares erzählt.
Ich habe es geschafft, ich bin hier in Hamburg. Damals haben Sie das nicht geglaubt. Sie wollen wissen, wie ich es geschafft habe?
In Griechenland schnorrte ich mich nach Orestiada durch, so machen es die meisten Flüchtlinge. Man geht in die örtliche Polizeistation und holt sich ein Visum ab. Darauf steht, dass man 30 Tage Zeit hat, das Land zu verlassen. Es ist wie ein Ausweis. Danach schicken sie einen weg. "Geht nach Athen", sagte die Polizei, "da ist es besser für euch." Sie sagten auch, dass wir nicht herumlungern sollten.
In Orestiada lernte ich einen Iraker kennen. Der hatte Geld und wollte mit dem Zug nach Alexandropolis. Angeblich weil es dort Arbeit gab. Ich hängte mich an ihn dran. Als der Schaffner kam und uns kontrollierte, zahlte der Iraker die zehn Euro für meine Fahrkarte.
Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich an welchem Ort war. Anfangs habe ich am Bahnhof geschlafen, später habe ich mir ein Zimmer besorgt. Ich möchte nicht erzählen, wie. Nach meiner Erinnerung verbrachte ich vielleicht zwei Wochen in Alexandropolis. Jeden Tag habe ich in Supermärkten etwas zu essen geklaut. Wir haben uns immer kleine Märkte ausgesucht, in denen ein Verkäufer alleine stand. Einer von uns hat ihn in ein Gespräch verwickelt, der andere hat den Rucksack gefüllt.
Der Konflikt in Algerien
Die nächste Station war Thessaloniki, wieder mit dem Iraker zusammen. Wir haben ein verlassenes Haus am Stadtrand entdeckt, dort haben wir geschlafen. Wir waren wohl nicht die ersten, Matratzen lagen darin. Die Polizei jagte uns zweimal fort. Beim zweiten Mal wollten sie uns einsperren, sie ließen mich aber gehen, als ich versprach, am nächsten Tag das Land zu verlassen.
Überall, wo ich war, lernte ich andere Flüchtlinge kennen. Man erzählt sich so einiges, gibt einander Ratschläge. Ich hörte von einem Zug, der bis nach Österreich fuhr, einem Güterzug. Mit einer Gruppe von Männern versteckten wir uns in einem Waggon. Irgendwo in Mazedonien hielt der Zug, die Polizei kontrollierte. Wir waren froh, als sie kam. Der Zug transportierte irgendwelche Chemikalien, deren Ausdünstungen wir stundenlang einatmeten. Es müssen weit über 50 Grad im Waggon gewesen sein. Ich bekam Fieber.
Sie schoben uns wieder nach Griechenland ab. Dort sagte die Polizei, wir sollten doch über Skopje nach Serbien reisen.
Also stieg ich wieder in einen Güterzug. Der transportierte zum Glück nur Marmor. Ich hatte bloß Wasser dabei, nichts zu essen, genau wie die sieben Männer, denen ich mich angeschlossen hatte. In Novisad stiegen wir aus, wir hielten den Hunger nicht mehr aus. Wir liefen zu einer Tankstelle, da kam die Polizei. Fünf von uns waren zu schwach zum Weglaufen. Ich lief weg, aber ein Beamter holte mich ein und fing an, mich zu schlagen, auf den Kopf. Vielleicht 15 Minuten lang. Ich verstand nicht, was er sagte. Dann riefen sie einen Rettungswagen, gaben mir Zigaretten und zwei Bananen.
Ich wurde vor Gericht gestellt, weil ich keine Papiere hatte. Meine Strafe waren zwölf Tage Haft. Danach sollte ich innerhalb von 20 Tagen Serbien verlassen. Im Knast waren nur Serben. Man sagte mir, dass ich mich für 160 Euro freikaufen könne.
Zu Fuß über die Grenze nach Ungarn – wieder zehn Tage Knast
Nachdem sie mich freigelassen hatten, schloss ich mich vier Palästinensern an, zumindest sagten sie, dass sie das waren. Wir gingen zu Fuß über die Grenze nach Ungarn und wurden sofort festgenommen, wieder zehn Tage Knast. Danach das gleiche Spiel: Die Ungarn schickten uns zurück nach Serbien, die steckten uns wieder in den Knast, danach schickten uns die Serben nach Mazedonien zurück.
Die serbischen Polizisten waren die schlimmsten. Sie fahren dich mit gezogener Waffe ins Nirgendwo und lassen dich einfach dort raus. Sie haben meine SIM-Karte kaputt gemacht und meinen Notizblock zerrissen. An der mazedonischen Grenze wurden irgendwelche Albaner auf uns aufmerksam, so Mafia-Typen. Wir konnten aber weglaufen.
Ich ging nach Serbien zurück. Dieses Mal blieb ich fünf Monate, ich kam da einfach nicht weg. Ich habe noch nie in meinem Leben so gefroren wie da.
Wieder lernte ich andere Flüchtlinge kennen. Einige sagten, dass sie nach Kroatien wollen, ich ging mit ihnen. Diesmal klemmten wir uns unter die Waggons von Güterzügen. In Zagreb ging ich freiwillig zur Polizei und stellte einen Asylantrag. Ich wollte mich ausruhen. Die kroatischen Polizisten haben mich als Erste anständig behandelt. Sie gaben mir einen Kaffee und fuhren mich zu einem Asylbewerberheim. Da blieb ich einige Wochen. Ich lernte einen Typen kennen, dessen Bruder in Dortmund wohnte. Also stiegen wir wieder in einen Güterzug, bis nach Klagenfurt in Österreich. Dort holte uns der Bruder mit seinem Auto ab. In Dortmund meldete ich mich bei der Polizei, stellte einen Asylantrag und wurde dann nach Hamburg geschickt.
Ich würde gern arbeiten. Für Geld anzustehen, hasse ich. Jeden Araber, den ich hier kennenlerne, spreche ich an: Hast du Arbeit für mich? Irgendwas?
Wenn ich jetzt die Bilder aus Lampedusa sehe, bin ich froh, dass ich nicht mit dem Boot über das Mittelmeer gekommen bin. Ich wollte es eigentlich. Aber mein Vater hat es verboten. Einige meiner Freunde wollen es bald versuchen.
Was Asyl ist, wusste ich vorher nicht. Ich dachte, man kommt nach Europa und sucht sich eine Arbeit. Ich weiß aber, dass ich kein Asyl bekomme. Dass die Europäer Angst vor Flüchtlingen haben, kann ich verstehen. Aber ich kann nicht nach Algerien zurück, auch wenn meine Mutter mich anfleht, dass ich zurückkehren soll. Dann würde ja jeder sehen, dass ich es nicht geschafft habe.