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 ALGERISCHE KULTUR
Bavarois Offline




Beiträge: 804

16.11.2013 00:46
Er wollte sie alle verstehen Antworten

Von der Kunst, zwischen Ja und Nein zu leben: Zum hundertsten Geburtstag von Albert Camus Von Mirko Bonné

Albert Camus wäre am 7. November hundert Jahre alt geworden. Eine absurde Vorstellung. Gerade 46 war er, als er am 4.Januar 1960 bei Fontainebleau tödlich verunglückte. Das Sportcoupé seines Freundes Michel Gallimard, in dem er als Beifahrer saß, raste gegen eine Alleeplatane und wurde in Stücke gerissen. Camus starb sofort, Gallimard wenig später. Auf einem Acker fand man in einer Ledertasche Camus' Romanfragment "Der erste Mensch" und sein Tagebuch. Einer der letzten Einträge ist das Prosagedicht "Für Nemesis". Es beginnt: "Schwarzes Pferd, weißes Pferd, eine einzelne Menschenhand zügelt das Rasen beider. Wie heiter die Fahrt mit halsbrecherischem Tempo. Wahrheit lügt, Offenheit verhehlt. Verbirg dich im Licht."

Für die Bücher seines Spätwerks, die Essays über Algerien und Mittelmeer "Heimkehr nach Tipasa" (1954), den Roman "Der Fall" (1956) und die Erzählungen "Das Exil und das Reich" (1957), stellt die Ausdeutung des Nemesis-Mythos ein so zentrales Motiv dar wie für frühere Werke Camus' Beschäftigung mit Sisyphos und Prometheus. Das Absurde, die Revolte, das Maß: In der Sinnleere entdeckt Sisyphos ein eigenes Glück. Prometheus verwandelt das Aufbegehren in Lebendigkeit stiftendes Miteinander. Doch erst die Göttin des Einhalts und Gleichgewichts, "Feindinn alles Uebermuths und Uebermaaßes", wie Herder Nemesis nennt, versöhnt Camus mit einem als zerrissen empfundenen Leben: "An dem kurzen Tag, der dir gegeben ist, wärme und erleuchte, ohne deine Bahn zu ändern." Ein Rätsel bleibt, weshalb er zwei Jahre nach der Verleihung des Literaturnobelpreises sein Leben als gescheitert begriff. Lag es an dem Bruch mit Sartre? An Algerien? An seiner zerrütteten Ehe, der kaputten Gesundheit? Ruhm war für ihn nur Getöse.

Zerrissen: Als Sohn eines im Ersten Weltkrieg tödlich verwundeten südfranzösischen Kellereiarbeiters und einer menorquinischen Putzfrau wurde Camus am 7. November 1913 im algerischen Mondovi, heute Dréan, an der Grenze zu Tunesien geboren. In Belouizdad, das damals Belcourt hieß und Algiers Kleine-Leute-Viertel war, wuchs er in einfachsten Verhältnissen auf. Früh tuberkulosekrank, liebte er Fußball und Schwimmen, trat der KP bei, gründete ein Arbeitertheater und war ein umschwärmter, bald unglücklich mit einer Morphinistin verheirateter junger Mann, der sein Philosophiediplom über Hellenismus und Christentum ablegte, ehe er 1940, kurz vor dem deutschen Überfall auf Frankreich, nach Paris ging.

Für das Algerien seiner jungen Jahre, die mit Licht und Wärme überreich entlohnte Armut der Menschen und Kargheit der Landschaft, fand er Sätze und Bilder, deren Leuchtkraft und kompromisslose Liebe bis heute ergreifen. 1942 erschien "Der Fremde". Der Roman schildert die aufbrechenden Konflikte Algeriens und porträtiert eine Angestelltenexistenz, die erfüllt ist vom Ennui der weltverlorenen Großstadtjugend. Auch "Die Pest", veröffentlicht 1947, siedelte Camus in Nordafrika an. Vom Schwarzen Tod heimgesucht, wird die Stadt Oran abgeriegelt. Glück, Recht, Glaube und Würde verkehren sich für die Eingeschlossenen ins Gegenteil. "Der Fremde" und "Die Pest" messen die Abgründe aus, die Niedergang der vertrauten Welt und Verfall menschlichen Miteinanders hinterlassen. Als zeitlose Parabeln auf den von Feindlichkeit umstellten Einzelnen sind sie verbale Projektile gegen jeden Anspruch auf Totalität, auch den göttlichen.

Camus fordert, Nihilismus auf der einen und maßloses Sinnverlangen auf der anderen Seite als Dilemma zu durchschauen. Es gilt, ein tätiges Empfinden für die Absurdität zu entwickeln: "Das Absurde hängt ebenso sehr vom Menschen ab wie von der Welt. Es ist zunächst das einzige Band zwischen ihnen", heißt es in "Der Mythos von Sisyphos". Von sich und seinen Lesern verlangt Camus nichts Geringeres als die bedingungslose Liebe zum Leben und meint damit ein so erfülltes, mit allem vermähltes Dasein, dass es keiner höheren Instanz bedarf. "Richesse présente", gegenwärtiger Reichtum: "Hier begreife ich den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe. Es gibt nur diese eine, einzige Liebe in der Welt."

Noch während der deutschen Besatzung wurde er Gallimard-Autor und -Lektor. 1943 stieß er zur Widerstandszeitung "Combat". Kämpferische Leitartikel machten ihn zur Stimme der Résistance. 1945 brachte seine zweite Frau Francine Zwillinge zur Welt. In den Jahren nach Kriegsende erschienen "Die Pest" sowie die Stücke "Der Belagerungszustand" und "Die Gerechten", Werke, mit denen er sich der Auslotung von Totalitarismus und Revolte zuwandte. Romancier, Dramatiker, Philosoph, Aktivist, moralisches Gewissen: Camus wurde Pariser Ikone, der intellektuelle Humphrey Bogart aus der Rue Madame – und hatte in Simone de Beauvoir und dem einstigen Mitstreiter Jean-Paul Sartre einflussreiche Neider. Als er 1951 die politisch-philosophische Abhandlung "Der Mensch in der Revolte" vorlegte, schien sein Zenit abrupt überschritten. Linke Kritiker, allen voran Sartre, verrissen "L'homme révolté" als antikommunistisch und überambitioniert.

Camus kehrte der Rive Gauche den Rücken, um in Avignon und Angers am Theater zu arbeiten. Er zog sich zurück im Luberon, fand aber kein Mittel gegen eine Schreibblockade, die ihn fast die Hälfte der Fünfzigerjahre lähmen sollte. Seine Ehe drohte zu zerbrechen. Er hatte Geliebte, so die Schauspielerin Maria Casarès, der andere folgten. Francine erlitt auch seinetwegen einen Nervenzusammenbruch. Ebenso alarmierte ihn die politische Lage. Die Sowjets schlugen in Ost-Berlin den Arbeiteraufstand nieder. Als in Algier Bomben detonierten, kündigte sich der Algerienkrieg an. Der Nobelpreis traf ihn wie ein Blitz. Als man ihm in einem Pariser Café die Nachricht überbrachte, fragte er: "Pourquoi pas Malraux?"

Er kaufte ein Haus im Vaucluse und begann dort, "Der erste Mensch" zu schreiben. Skizzen zu einem Stück entstanden, das Don Juan mit Faust verschmelzen sollte, "Don Faust", und er schrieb, ermuntert von René Char, erstmals Gedichte wie "Für Nemesis". In seinem Tagebuch ging er auf Entdeckerfahrt durch die Geschichte von Rache, Vergeltung, Versöhnung. Die Göttin des Maßes wurde seine letzte Galionsfigur.

Shelley machte keinen Hehl daraus, dass sein Bestreben einer besseren Welt galt, er meinte sogar, dafür ein Rezept zu haben. Keats sagten hymnische Sozialutopien von der intellektuellen Schönheit einer poetisch-moralischen Elite nichts. Er unterstellte Shelley Allmachtsgelüste, den Erdball mit den eigenen Händen zu bewegen. Oft als Prototyp des L'art pour l'art verkannt, will sich dagegen Keats' Poetologie vom Zweckdenken befreien, ihr offener, weniger am Kunst- denn am Lebensdetail orientierter Charakter ist Ausdruck fortwährender Überprüfung eines Credos, wonach ein Autor kein zielgerichtetes Festgelegtsein anstreben, vielmehr die eigene "negative capability" zulassen sollte. Das Ungewisse, das Ungereimte, die Zweifel soll er ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Gründen aushalten.

Für Emerson war jede Mauer eine Pforte. Und auch weitere Leitsterne Camus', etwa Melvilles und Dostojewskis Werke, sind ohne "negative Befähigung" undenkbar. Albert Camus' zunächst rätselhaftes Axiom vom Ende jeder Kritik und Polemik erscheint so betrachtet alles andere als kryptisch: "In Zukunft einzig und beharrlich die Bejahung. Verstehe sie alle."

Macht sei von Ungerechtigkeit nicht zu trennen, sagt Camus, auch im besten Fall könne sie nur umsichtige Verwaltung ungerechter Zustände sein. So bitter das ist, so sehr eröffnet es nicht der Literatur, aber dem Schreiben die Besinnung auf einen tatsächlichen, von keiner Macht einschränkbaren und stets aufs Neue verblüffenden Wirkungsbereich.

Keats hielt für das Wichtigste auf der Welt schönes Wetter – was keine Plattitüde ist. Kein Gedicht, nicht mal Shakespeares "Shall I Compare Thee to a Summer's Day?", wird je die Welt verbessern, solange es Krankheiten und Katastrophen gibt. Die Künste spricht das von keiner Verantwortung frei. Camus stellt in seiner Nobelpreisrede "Der Künstler und seine Zeit" die Frage, wie die seltsame Freiheit der Schöpfung und ihr künstlerisches Erleben in einer von Kommerz und Konsum ausgehöhlten Gesellschaft zu erhalten seien, einer Gesellschaft, die das Körperliche der Menschen täusche und die Künste zu belanglosem Zeitvertreib mache. Die Rolle des Schreibenden sieht er darin, "von dem zu sprechen, was alle kennen, und von der Wirklichkeit, die uns gemeinsam ist. Meer, Regen, Bedürfnis, Kampf gegen den Tod, das ist es, was uns alle verbindet."

Die Frage, welche Rolle Kunst, Musik, Theater oder Literatur in einer nur mehr eigennützig vernetzten Unterhaltungs- oder, wie Camus sagt, "Attrappengesellschaft" noch spielen, hat sich gut ein halbes Jahrhundert später erübrigt. "Ich bin unglaublich flexibel", schreibt Imre Kertész 2001 in sein Tagebuch, "ich bin nirgendwie." Die Künste, ein verlogener Luxus? Camus bejaht. Sein Spätwerk erstaunt auch dadurch, dass es alle gesellschaftliche Funktion von Literatur für irrelevant erklärt: "Das Problem ist vielschichtiger und auch tödlicher, sobald man gewahr wird, dass der Kampf im Inneren des Künstlers selber stattfindet. Der Kunsthass, von dem unsere Gesellschaft so schöne Beispiele aufweist, ist heute nur deshalb so wirksam, weil die Künstler ihn selber nähren. Die Zweifel der Künstler früherer Zeiten betrafen ihr eigenes Talent. Die Zweifel der Künstler von heute betreffen die Notwendigkeit ihrer Kunst, also ihre eigene Existenz." Nach Camus ist nicht die Literatur mit ihrer Wirkungslosigkeit konfrontiert, sondern der Autor im gleichen Maß wie jeder andere mit der Angst vor Sinnlosigkeit und Leere. Kertész denkt Camus radikal weiter, wenn er anmerkt, Hauptmerkmal des "schicksallosen Zustands" sei "das völlige Fehlen einer Beziehung zwischen Existenz und wirklichem Leben".

Camus' zeitlose Aktualität und Notwendigkeit besteht darin, dass er der alle Lebensbereiche immer schneller verheerenden Nivellierung Paroli bietet. Dem der Literatur angedichteten Dilemma, wie es bei Keats und Shelley seinen Anfang nimmt, einer Literatur, der bis heute im Grunde nur zweierlei zuerkannt wird, nämlich dass sie entweder Vorschriften zu machen oder aber wohl nichts zu sagen und daher wenigstens unterhaltsam zu sein habe, hält Camus das Maß der wehrhaften Nemesis entgegen: eine Kunst, die sich weder in Ablehnung noch Zustimmung gefällt. Sie ist beides zugleich, waches, stetes Hin- und Hergerissenwerden. Der Lohn für das Aushalten der Spannung zwischen Schönheit und Schmerz, Liebe und Wahn, Vereinzelung und Masse ist die Versicherung der Lebendigkeit: Sie bringt die Wirklichkeit und das Aufbegehren, das jeder ihr zuweilen entgegensetzt, ins Gleichgewicht. Camus spricht vom "unablässigen Sprühen des freudigen und des zerrissenen Lebens", dem Auftrieb gebenden Anerkennen der unterschiedlichsten Pole jeder Lebenswelt. Lustvolles Mit-Denken, Lust an einem Handeln, das das eigene ans Leben anderer koppelt, kann ein auf immer krassere Stimulanz getrimmtes Literatainment jedoch auch in 100 Jahren nicht wecken.

Zum Letzten, was Camus schrieb, gehört der Gedankenstrom, mit dem "Der erste Mensch" abbricht. Camus' Alter Ego Cormery sieht sich als "vibrierende Klinge, dazu bestimmt, mit einem Schlag und für immer zerbrochen zu werden". Auch wenn ihm Jugend und Mitmenschen entgleiten, hält er am Glauben an ein Lebensmaß fest: "der blinden Hoffnung hingegeben, jene auch in härtesten Situationen gleich starke dunkle Kraft, die ihn so viele Jahre über die Tage getragen, uneingeschränkt gestärkt hatte, möge ihm mit der gleichen, rastlosen Großzügigkeit, mit der sie ihm Gründe zu leben gegeben hatte, Gründe dafür liefern, alt zu werden und ohne Aufbegehren zu sterben" – vor und zurück durch die Zeit greifende Sätze einer pulsierenden Prosa. Sie ist Albert Camus' eigentliches Vermächtnis und eine Botschaft an jeden, der nach einem Maß sucht. Zu finden ist es auch in dem Gedicht "Für Nemesis": "O Erde, die für alles genügt. Von allem befreit, dir selbst untertan."

Mirko Bonnés jüngster Roman "Nie mehr Nacht" stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Quelle: Die Welt 02.11.13

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